Text zu 10 times 6 (3./4. Mai 2014) von Anna Volkland
Fünf Frauensoli und ein doppeltes, zwei gemischtgeschlechtliche Duette und eine einzige One-Man-Show
Tiefer Frühling, Mücken schwirren über der Panke, die Sonne geht ganz
langsam unter… die zweite Ausgabe von "10 times 6" in dieser Spielzeit – im Vergleich zur Ausgabe vor einem halben Jahr – kalter, dunkler November – sind die meisten Stücke leicht und luftig,
easy viewing. Jetzt also easy reading, Stück für Stück:
Erstens: zweizeller
"Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?", zitiert der Programmhefttext zu "9991/24 (DYNAMIC BIOGRAPHY)" (siehe: Sechstens) den Populärphilosophen Richard David Precht, was ebenso gut als Titel für
den Eröffnungsbeitrag des Kurzstückmarathons gepasst hätte: Das irreführend eindeutig klingende Amöbendramolett "zweizeller" könnte man sowohl als Quartett der Tänzerchoreographin Marlène Colle,
des sport- und biologieaffinen Abenteuer-/Erlebnispädagogen Joschka Kling und zweier niedlicher kleiner Insektenroboter beschreiben, als auch als Duett der beiden menschlichen PerformerInnen oder
letztendlich wohl am treffendsten: als Tanz eines anthropo-möben Klumpens, dessen Identitäten ohne die bekannten menschlichen Silhouetten nicht mehr genau bestimmbar sind. (Ja, man kann an
"Self Unfinished" des studierten Molekularbiologen Le Roy denken…) Der Raum ist spärlich beleuchtet, der Soundtrack erscheint paradoxerweise als feuchtes Knistern, vielleicht von Eis, aber sehr
künstlich, später ist es eindeutig Elektronik, die diese klinisch anmutende Welt durchpulst. Hinter den sich so ziellos wie unermüdlich hin- und herbewegenden Robotertierchen, die immer wieder an
die Wände ihrer kleinen rechteckigen Welt stoßen und aufgrund fehlender alternativer Handlungsmöglichkeiten um sich selbst kreiseln, liegen zwei große weiße Gebilde. Die sind noch ganz gut als
zusammengefaltete Menschen in labortauglichen Schutzanzügen zu erkennen, auch wenn sie ihre Gesichter nicht nur unter den Schutzhäubchen, sondern beinahe in ihren Knien versteckt halten. Es
dauert nicht lang, bis sich die beiden atmend-wabernden Körperberge ohne Köpfe und Arme aufeinanderzuschieben, um sich den Anderen einzuverleiben, wie es kannibalische Amöben vielleicht tun, wenn
sie aufeinandertreffen. Nach kurzem Geruckel, bei dem die tentakelartigen Beine samt nackten Füßen eine wichtige Rolle im Dominanzkampf gespielt haben (Stichwort: Klammerpressgriff), gehen die
Riesenamöben zu einer friedlich-symmetrischen Symbiosebeziehung über, aus der sie sich nun nicht mehr lösen werden. Wobei friedlich nicht bequem bedeutet. Es wird mit- und aufeinandergeturnt, was
erst eher wie sportive Partnerakrobatik wirkt und nicht weiter überraschend ist. Am eindrucksvollsten gelingt die äußerst anspruchsvolle Fusionsposition der gekreuzten Doppeldeckerliegestütze
mit vier Armen ohne Beine, die sich sogar fortbewegen kann. Zunehmend gelingt dann eine Körpersymbiose, die es schwierig macht, die einzelnen Leiber in der Wahrnehmung
auseinanderzudividieren, die jeweiligen Körperschwerpunkte zu erkennen, um richtig vorhersagen zu können, in welche Richtung die Doppelamöbe nun kippen könnte. Spannend, wenn tatsächlich
Unvorhergesehenes passiert.
Zweitens: Uro
Auch das zweite Stück legt keinen Wert auf Eindeutigkeiten und Grenzziehungen. Was ist denn auch ein Tier, ein Stier, ein Stierkämpfer, ein Mann, ein Mensch? Die US-amerikanische Flamencotänzerin
Anna Natt verkörpert sie alle, und trägt dabei nichts außer einem schwarzen Gymnastikbody, der lustigerweise am Hals mehr Stoff als am Po bietet. Und Schuhe, die wahrscheinlich Flamencoschuhe
sind, aber das spielt keine Rolle, es ist wohl allein wichtig, dass sie die unbedeckten Pobacken beim Vornüberbeugen gut exponieren, auf dass Anna Natt zeigen kann, was ein Stierkampf eigentlich
ist, "wenn man den Pomp […] extrahiert". Dieses nackte Hinternwackeln der sich auf den Fingerspitzen aufstüzenden und dabei Speichelfäden vom Kinn tropfen lassenden Performerin ist nicht schön,
aber in seiner Aufdringlichkeit beeindruckend seltsam: es scheint voll und ganz um tanzendes Fleisch zu gehen, nicht um Mensch oder Tier, sondern um rohes Fleisch, das letztendlich beide
verbindet. Worum es aber nicht geht in Anna Natts Stierkampfparodie, ist die Verletzung dieses Fleisches. Es gibt kein Blut, keinen Speer, nicht mal ein rotes Tuch und das einzige Anzeichen von
Schwäche ist das wiederholte Umknicken des Knöchels der Performerin in eben jener powackelnden Vierbeinerposition. Und dieses Umknicken reicht auch vollkommen aus, denn Anna Natt zeigt das
Barbarische des Stierkampfes schon in der brutal-dumpfen Starrheit des Toreros. Als der sie gar nichts tut, außer in grotesker Pose dazustehen – die sie allerdings durch eine langsam ruckelnde
360 Grad-Drehung von allen Seiten betrachten lässt, auch oder gerade beim Torero ist der Po ja besonders wichtig und präsent – ; also nichts tut, als breitbeinig mit vogekipptem Becken,
zurückgebogenem Oberkörper und in die Hüfte gestütztem Arm dazustehen und mit extrem verzerrtem Gesicht sehr böse und stumpfsinnig zu starren, die gleiche absurde Verkrampfung im Gesicht wie im
Körper: Unterlippe auf Maximalstellung vorgeschoben, das Kinn quasi in den Hals gepresst, die Augenbrauenwülste beinahe über die Augen herabgezogen; genauso gut könnte dieser Figur der Speichel
vom Kinn tropfen… Anna Natt bewegt sich also als ToreroStier so gut wie gar nicht, verzichtet auf Requisiten und bis auf eine kurze Einspielung folklorisitscher Arenamusik auch auf Sound – und
diese minimalisitsche Sprödheit bei gleichzeitiger grotesker Übertreibung des Ausdrucks seziert das normalerweise goldflirrend-verschnörkelte (Männer-)Ausstattungsballett Stierkampf vollkommen
treffend, ein wackelndes Standbild zum Abgewöhnen, möchte man meinen. Mit einer selbstbewussten Performerin, die "Banana Fighting" (siehe Viertens) als Kommentar auf die Erwartungen an
Tänzerinnen schon längst nicht mehr braucht.
Drittens: leave the keys and go
Gali Kinkulkin kündigt eine Art Stierkampf mit sich selbst an, aber die innere Heldentat wird nur bedingt nach außen sichtbar. Das Kurzstück der jungen israelischen Tänzerin, die erst seit einem
halben Jahr in Berlin lebt, ist vielleicht autobiographisch zu verstehen (siehe Titel: Schlüssel dalassen und abhauen) – der Programmhefttext aus der Ich-Perspektive spricht von Schmerz, Stärke,
Trost, den eigenen Grenzen, Vorstellungen von sich selbst usw. Auf der Bühne zu sehen ist dann eine junge Frau im Trainingsanzug, die sich im wahrsten Sinne des Wortes um sich selbst dreht, dazu
dunkel und warm pulsierende Töne, die ein wenig esoterisch klingen, aber das kann täuschen. Dem organischen Rollen und Kreiseln am Boden, unterbrochen von gelegentlichen Ebenenwechseln, die
erkennen lassen, dass sich Gali Kinkulkin (zumindest momentan) liegend am sichersten zu fühlen scheint, folgt das Sich-Drehen im Stand. Die Tänzerin dreht sich und dreht sich und dreht sich um
sich selbst und als sie schließlich stehen bleibt und sich verbeugt, müssen ihre Augen noch ein wenig weiter hin- und herwandern – es ist nur zu ahnen, wie sehr sie innerlich schwanken und
taumeln muss. Als Selbsterfahrung und Übung im Schwindelaushalten (wessen Leben oder Weltbild steht heute schon noch auf soliden Grundlagen?) sicher spannend, zum Zuschauen vorerst weniger.
Viertens: Banana Fighting
Was folgt, ist noch eine Performance zur Mensch-Tier-Ambivalenz, diesmal mit (selbst)ironisch-humorvollem Blick auf die interessante Relation Affe – Frau (Sex) – Performerin. Ebenfalls
bemerkenswert (noch vor der eigentlichen Performance) ist, dass die aus Brasilien kommende Tänzerchoreographin und Tanzpädagogin Andrea Krohn das kurze Statement zu ihrem Solo selbst schreibt,
obwohl sie nicht als Regisseuren oder gar Choreographin genannt wird (wann haben denn DarstellerInnen mal etwas vor ihren RegisseurInnen zu sagen?), sondern die brasilianische Tänzerin und
Performerin Carolina Nóbrega, über die Krohn schlicht sagt: "Mein derzeitiger Regisseur ist auch eine Frau." Welche Rolle Carolina Nóbrega für diese Performance auch immer gespielt haben mag,
Andrea Krohn war die toughe Affenmaskenträgerin im Pina Bausch-Kleid, die mit erhobener Faust stoßatmend das Klischee vom animalischen Sex zitiert, der nicht so richtig zur grünseidenen Abendrobe
passen will. Sie macht zuerst sehr überzeugend den brünstigen Affen, hechelt, grunzt und kreischt, schwingt sich auf einem Arm über den Boden, springt die Wand an und lässt vermuten, dass
Capoeira direkt von unseren nächsten Verwandten im Tierreich abstammt, wobei sie bei all dem immer wieder das aktive Sich-Gebärden männlicher und die schön anzuschauenden Posen weiblicher
Sexualität zitiert. Das trägerlose Kleid rutscht bei all dem Turnen bald unter die nackten Brüste, was den Eindruck des Hybriden noch verstärkt. Dazu kommt eine Collage aus O-Tönen, in denen
Frauen beispielsweise über (historisch zu nennende) Erwartungen an Tänzerinnen auf der Bühne sprechen (in etwa Grazie, Anmut, Leichtigkeit etc. pp.). Die Textfragmente überlagern nicht nur
einander, sondern auch die währenddessen stattfindende, dem Gesagten vollkommen entgegenstehende Performance, sodass mir offen gestanden nur der Eindruck blieb, es handele sich hier um klug
ausgewähltete Aussagen und Textstellen, von denen ich leider keine einzige genau zitieren könnte. Schließlich nimmt die Tänzerin die Affenmaske ab, und jetzt zeigt sich, wie gut ihre
agressiv-animalische King-Kong-Performance (Virginie Despentes lässt grüßen, vermute ich) wirklich war – ich ertappe mich dabei, überrascht zu sein, wie jung und "unschuldig" Andrea Krohn doch
aussieht… Aber während ihr Kleid dann beinahe als Rock auf die Taille rustcht, erinnert sie auch ohne Maske mit ihren hochgebundenen Haaren eher an einen (asiatisch inspirierten) zeitgenössischen
Tänzer als an eine der betont femininen Tanztheaterprotagonistinnen. "Banana Fighting" wäre eine extended version zu wünschen, Material scheint auf jeden Fall genug vorhanden.
Fünftens: Smile and let those weird butterflies land and somebody else’s mouth
Die sehr nett daherkommende, dabei aber eher makabere Gesangsperformance der f***** up mamas Signe Holtsmark und Sandra Wieser hat, wie es aussieht, weder mit Sex noch mit Kindern zu tun, aber
auch mit einer Frau – klassischerweise einer leidenden. Ihr Körper (und nicht nur der) verschwindet Stück für Stück und am Ende muss sie sich paradoxerweise fragen, ob sie bereits tot ist oder
doch noch nicht – "a sad story…". Die aus Norwegen stammende Philosophin und Performerin Holtsmark und die Schweizer Performerin und Bildende Künstlerin Wieser bringen einen Stuhl (der als
Staffelei dient), ein Paket (als Leinwand), einen dicken Edding (wofür wohl?) und ein Mikrofon auf die Bühne – Hauptprotagonist ist der Text in einer melancholisch-monotonen, lieblich-abgründigen
Melodie, die singenden Performerinnenkörper selbst erscheinen nicht als von zentraler Bedeutung. Während sie davon singen, dass die Frau sämtliche Gesichts- und Körperteile, Organe und ihre
Konzentration, nicht aber ihre Gedanken und (obgleich ohne Zunge) ihre "messerscharfen Worte" verliert, skizziert Wieser nach und nach im kubistischen Picasso-Stil ein fragmentiertes
Frauenportrait auf den Karton. Warum das? Warum nicht…? Die Geschichte der am Ende körperlosen, aber keineswegs erlösten Frau erinnert ein wenig auch an Brechts verstörendes "Lehrstück" (1929),
in dem zwei böse Clowns dem über Schmerzen klagenden Herrn Schmidt empfehlen, sich von ihnen nach und nach alle Körperteile abhacken zu lassen, am Ende auch den Kopf – all dem folgt Herr Schmidt
bereitwillig und doch ist keine Besserung in Sicht. "Ein Puzzle, in dem die meisten Stücke fehlen", nenne die f***** up mamas ihre Performance, die nun tatsächlich so poetisch und rätselhaft ist
wie ihr Titel.
Sechstens: 9991/24 (DYNAMIC BIOGRAPHY)
Richter/Meyer/Marx (die Choreographin und Stuntfrau Katja Richter und der Tanzdramaturg und Performer Helge Björn Meyer) kombinieren auch einen Text mit Körpern, genauer gesagt, ihre eigenen bis
auf eine weiße Baumwollunterhose nackten, mittelalten Körper mit der (von Oskar Brown aus dem Off) erzählten Biographie eines 1993 geborenen Supermenschen, der erst alles erreicht, was einem
hochbegabten Erfolgswilligen mit sehr guten Startvoraussetzungen im globalisierten Zeitalter so möglich ist und in verschiedensten Missionen rund um den Erdball unterwegs ist, kurz in der
Gegenwart des Jahres 2014 in Berlin aufschlägt, um dann in den folgenden Jahren bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2021 immer mehr den Drogen bzw. einer tiefen Sinnkrise zu unterliegen. Von wem der
irrwitzige Text stammt, wird (wie auch bei allen anderen Kurzstücken des Abends) leider nicht verraten, vermutlich also von Richter/Meyer/Marx selbst. Die Performance jedenfalls könnte man auch
als live bebilderte Hörspiellesung bezeichnen, auch wenn die beiden fast Nackten, die wie Ausstellungsstücke auf kleinen weißen Tüchern stehen und noch eine goldene chinesische (oder japanische)
Winkekatze auf eben so einem Tuch neben sich platziert haben, die Biographie nicht im klassischen Sinne bebildern oder szenisch miterzählen. Sie stehen einfach da, auf beiden Beinen, mit
herabhängenden Armen und ändern gelegentlich ihre Blickrichtung bzw. ihre Ansicht (Rücken, Profil, Front…) und minimal ihre Haltung, Katja Richter setzt sich auch mal. Sowieso liegt der Fokus auf
dem Performer Meyer, der automatisch mit der Biographie des am Ende scheiternden Übermenschens assoziiert wird, während Kollegin Richter die Rolle der Freundin oder Ehefrau übernimmt und oft auch
gar keine Rolle hat, denn Er glaubt eine Weile, homosexuell zu sein oder kann dem jedenfalls ein paar Jahre lang viel abgewinnen. Nun wird der Held der Erzählung natürlich immer älter und
ist sowieso Zeit seines Lebens jünger als der Performer (sofern ich mich bei den Jahreszahlen nicht doch verhört habe), realer Körper und Vorstellung der Figur passen also auch bei Meyer nicht
zusammen. Die Projektion funktioniert dennoch (wie immer wieder auch an den leisen Lacher im Publikum zu vernehmen ist) und vielleicht ist das das Verblüffende an dieser Performance.
Siebtens: 25-4-11
Hinter der nächsten Zahlenkombination verbirgt sich das Solo der Tanzwissenschaftlerin und Tänzerin Cilgia Carla Gadola, das nach ihren Angaben vom Roman "Água Viva" der russischstämmigen
brasilianischen Autorin Clarice Lispector inspiriert wurde. Es bleibt allerdings den Kennern dieses Werkes vorbehalten, seine Spiegelung – die laut Gadola keine inhaltliche oder kontextbezogene
ist – in ihrem Solo erkennen und verstehen zu können. Gadola trägt Bobfrisur, weiße Bluse, schwarze Marlenehose und vielleicht wirkt das auch nur wegen der applausgetränkten Salonmusik wie eine
Hommage an die 20er Jahre – vielleicht soll hier auf einen ganz anderen oder sogar gar keinen bestimmten historischen Kontext angespielt werden, dennoch entsteht durch Klediung und Applaus der
Eindruck eines öffentlichen Orts. Auch natürlich, weil die junge Frau sich immer wieder in anmutige, oft auch sphinxähnliche Posen begibt, halb sitzend, halb liegend, und in eine bestimmte
Richtung schaut, meist nach vorn, seltener auch über die Schulter schräg nach hinten. Was sie sieht, bleibt ein Rätsel, und wahrscheinlich ist es auch eher ein zur Schau gestellter Blick, der
innere Abwesenheit gegenüber dem sie umgebenden (für den Zuschauer unsichtbaren) Geschehen behauptet, eine individuelle Vierte Wand also. Ciglia Gadola bewegt sich nicht viel, sie gerät nie außer
Kontrolle. Als sie sich dreht bis zum Schwindel (auch sie! siehe Drittens und Achtens), begibt sie sich zu Boden – wo sie sich ebenfalls dreht, zuckt oder verharrt und schaut. Ein Solo wie die
Sphinx, ein echtes Rätsel. (Das möglicherweise am Ende sogar gut zusammen geht mit den f**** up mamas?)
Achtens: Ephemerid
Wenn Künstler aus anderen Feldern den Tanz für sich entdecken, tun sie das wahrscheinlich oft, weil sie den bewegten Körper in seinen Möglichkeiten erproben wollen, also auf der Suche nach einem
Mehr und nicht einem Weniger an körperlicher Bewegung sind. Und vielleicht ist es typisch für Bildende Künstler, vielleicht ist das aber auch eine nur ganz klischeehafte Projektion, dass sie –
wie wohl überhaupt die meisten Menschen, die selbst wenig bewusste Bewegungserfahrungen haben – Bewegung zuerst als Form und Effekt wahrnehmen, also nicht sofort danach fragen, wie sich die
Herstellung einer Bewegung im Körper anfühlt oder welchen physischen, emotionalen und kognitiven Zustand es braucht, um sie hervorzurufen. Nun ist das tatsächlich Spekulation, aber es fällt auf,
dass Celine Drouin Laroche, Studierende der Bildenden Kunst, in ihrem Solo eine Fülle an Bewegungsmaterial versammelt und ganz ungewöhnliche Körperskulpturen baut, was zwar expressiv wirkt und
bisweilen an Ausdruckstanzgebärden erinnert, aber nicht unbedingt lesbar ist als Erzählung oder gar Ausdruck eines bestimmten Körpers. Vielleicht sympathisiert Celine Drouin Larouche mit Merce
Cunningham und trägt deshalb einen hautengen Gymnastikanzug, allerdings sieht man, wenn man sie tanzen sieht, eben mehr als schlicht einen tanzenden Körper, mehr als choreographische
Muster in Raum und Zeit. Man sieht Haltungen, die sich im Laufe des Lebens in den konkreten Performerinnenkörper eingeschrieben haben, der eben nicht jahrelang darauf trainiert wurde, idealen
Achsen und Linien zu folgen. Kurz gesagt: Die Kunststudentin blendet ihren eignen Körper als theatralen, konkreten, erzählenden aus, während sie sich in einen unorthodoxen Tanz wirft – so scheint
es jedenfalls.
Der Performancesound stammt ebenfalls von Laroche und erinnert vor allem zu Anfang noch am ehesten an die Inspiriertheit der Choreographie von "mechanischen, städtebaulichen Landschaften und
flüchtigen, wüsten Orten", später dominiert ein technoides Pulsieren; auf eigene Videoprojektionen, die sie in anderen Performances verwendet (siehe http://vimeo.com/user4919880/videos), muss sie hier auf Grund der "10 times 6"-Richtlinien verzichten. Ihre originäre Schöpfung ist der Tanz, der besagte skulpturale Elemente
enthält, die mitunter an lustige Yogapositionen erinnern, etwa den Schulterstand oder den Kopfunterblick durch die gegrätschten Beine hindurch. Originell ist auch der Auftritt: Celine Drouin
Laroche marschiert in den dunklen Aufführungsraum und steckt zuallerst den Stecker ihrer selbst mitgebrachten Leuchtstoffröhre in die Dose, um sich mit dem nötigen kalten Kunstlicht umgeben zu
können. Obwohl sie ihren Tanz, der auch sehr ausgiebiges Sich-um-die-eigene-Achse-Drehen beeinhaltet, eher formal als theatral angelegt hat, gestaltet sie doch sehr bewusst die von ihr
produzierte Aufführungssituation. Am Ende setzt sich die Künstlerin an die Seite der Bühnenfläche und schaut in den leeren Raum – ist dort noch etwas zu sehen, wirkt ein Echo der Bewegungen nach
oder ist die Performance wirklich weg, als wäre nie etwas gewesen?
Neuntens: GROUNDED 2014
Mit Spannung erwartet: Das Duett der noch weitgehend unbekannten Berliner Tänzerin Nelly Hakkarainen mit dem gleich bei den diesjährigen Tanztagen in der Hauptstadt aufgeschlagenen Selfmadedancer
Wooguru aus Südkorea, über den die beiden Kuratoren damals verlauten ließen: "Wir denken an Rocky, der sich nach oben kämpft. Er will einfach tanzen, nicht so viel darüber reden." Was also ist
aus Wooguru, dem Tänzer aus Leidenschaft, geworden? Nelly Hakkarainen und er kündigen an, sie wollten zusammen tanzen "als ein zusammenhängendes Ganzes bei Erhaltung unserer Individualität".
Tatsächlich dominiert aber doch eher die hellblonde Tänzerin, die den gleichen Zwiebeldutt wie ihr Duettpartner trägt, aber der Dutt erscheint bei ihr eher als Reminiszenz an eine – Verzeihung! –
nicht anders als kitschig zu nennende Ballettästhetik, die auch ein wenig vom Tai Chi inspiriert sein könnte. Zu Beginn haben sie und ihr etwas abseits stehender Partner die Augen geschlossen,
Vögel zwitschern, dann scheint sie wie eine Blume zu erblühen… Nelly Hakkarainen bevorzugt grazil gemeinte Hand- und Armbewegungen, die leider oft manieriert wirken, dazu Auf-Zehenspitzen-Gehen
und Balancieren auf einem Bein, begleitet von einem entrückten Gesichtsausdruck. Und Wooguru? Der zeigt ein knappes, vergleichsweise temperamentvolles Freestyle-Stepptanzsolo, das die eher
andächtige Atmosphäre des Duetts unterbricht, auch wenn er sich hier nicht zu performerischen Höhenflügen aufschwingen kann – vielleicht ist sein Solopart schlicht zu kurz, als dass er richtig in
Fahrt käme. Dann spiegeln die beiden einander, während sie sich direkt gegenüber stehen und eine meditative Choreographie der zarten Armbewegungen tanzen, und obwohl beider Stilvorlieben und
sicher auch Ausbildungshintergründe sehr unterschiedliche sind, passen sie erstaunlich gut zueinander. Wooguru wirkt immer wieder wie ein Echo der Tänzerin, ist dabei aber mit seinem sehr
zurückgenommen Ausdruck weniger kitschig als sie. Als Stilfusion kann "GROUNDED 2014" durchaus als gelungen bezeichnet werden, als einzigartiger künstlerischer Ausdruck zweier unkonventioneller
Tänzer ("Das ist unsere eigene Art zu tanzen.") weniger.
Last but not least (zehntens): Om (Mm…)
Fast ohne Übertreibung kann man behaupten, dass der in "9991/24 (DYNAMIC BIOGRAPHY)" beschriebene überflieger-Lebenslauf, jedenfalls die Jahre vor dem Absturz, auch gut zu ihm gepasst hätte: Der
letzte Choreograph und Performer des Abends Simo Vassinen ist Autor, Forscher, Übersetzer, Eventproduzent und nebenbei auch Performer, er besitzt mehrere Studienabschlüsse, spricht mehrere
Sprachen, arbeitet weltweit an Themen wie nachhaltige und zukünftige Lebensstile, sozial-bewusstes Design und Architekturinitiativen, Wohlbefinden und Gemeinschaftsentwicklung, aber auch Tanz,
Performancekunst und Urbane Kultur (ich übertreibe nicht, siehe: www.simovassinen.com). Vassinen
ist außerdem erfahren in Streetdance und Yoga und diese besondere Kombination spiegelt sich samt seiner Livestyle-Forschung in der exakt designten Sonnengrußparodie "Om (Mm…)", die zu sehen ein
für ada-Verhältnisse beeindruckend großes finnisches (Fan-)Publikum erschienen war. Vielleicht ist Vassinen auch deshalb der erste Performer des Abends, der selbstbewusst in die Gesichter der
Zuschauer schaut – wobei er dennoch vollkommen konzentriert sein Turnprogramm absolviert. Er betritt den Raum dynamisch-federnden Schritts in weißer kurzer Sportkleidung, die mehr an Baskettball
oder mehr noch einen Turnerjüngling zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnert, als dass sie zur mitbebrachten Yogamatte passen würde, dazu ein Haarband in der blonden Frisur, der schlacksige Körper
sportlich gestählt. Und Vassinen hat insofern Recht mit seinem sportiven Zugriff auf eine jahrtausende alte spirituelle Lehre und Praxis, als dass die zeitgenössische Yoga-PR immer häufiger in
erster Linie den Gewinn an persönlicher Fitness und Sexyness propagiert, die sich im alltäglichen knallharten Kampf der Smartesten auszahlen muss… Vassinen also turnt sich durch seine ganz eigene
Variation des Sonnengrußes, indem er blitzschnell und akkurat immer neue Stellungen vorführt, die mitunter an erheiternde Posen aus einem Fitness-Porno erinnern: etwa wenn er sich wie von der
Pistole getroffen auf den Rücken wirft, den rechten Fuß am yogamäßig verrenkten Bein neben den rechten Beckenknochen gebettet, den linken gestreckten Fuß samt ebenfalls gestreckten Bein ballettös
in die Höhe gereckt, das Brustbein nach oben durchgedrückt und die Arme seitlich vom Körper abgespreizt. Statt Eso-Musik oder Mantragesängen pulst elektronischer Sound, das Licht ist hell und
kühl, definitiv keine Duftlampenatmosphäre. Einige der Posen sehen aus wie Muster antiker Vasenreliefs, Vassinen hält Ellenbogen und Handgelenke im 90°-Winkel gebeugt, die Knie- und Fußgelenke
ebenso. Fast erinnert er damit an ein menschliches Hakenkreuz, das ja auch ein buddhistisches Sonnensymbol sein könnte. Aber auch wenn der nordische Turnerjüngling in die Ästhetik eines
Olympiafilms von Leni Riefenstahl gepasst hätte, stammen diese Haltungen eher aus dem Streetdance, aus der New Yorker Ballroom-Szene der Neunziger, wie Vassinens Programmhefttext erläuert. Seine
Performance beschreibt er entsprechend auch weniger als Kritik an der Kommerzialisierung des Yoga in atmosphärisch unterkühlten Fitnesscentern, sondern als Suche nach Gruppenzugehörigkeit anhand
verschiedener subkultureller Codes. Dabei erscheint der Performer Simo Vassinen weniger als Suchender, denn als trendbewusster Konstrukteur einen ganz eigenen hybriden Stils. Das ist so gekonnt
lässig wie beiläufig witzig – beeindruckend für eine erste Solo-Performance.